Eine Werkzeugbau-Anlage zu realisieren, die ausdrücklich Vorbild-Status für andere haben soll, ist eine besondere Aufgabe. Nur modernste Maschinen mit intelligenter Steuerungstechnik kommen dafür in Frage. Auf solch hohem Niveau ist ein erheblicher Engineeringaufwand erforderlich.
Für die Sicherung des Mercedes-Benz Werks Sindelfingen als Standort für Entwicklung, Technologie und Know-how investiert die Daimler AG auch im Center Betriebsmittel mit dem Bau einer Erweiterung auf der Tübinger Allee. „TübA“, so lautet die interne Abkürzung für diesen Standort. Im Jahr 2015 ist hier die neue „Fertigungszelle 3“ entstanden – als Try-Out-Center, an dem sich Blechumformwerkzeuge für die Außenhaut von Fahrzeugen nicht nur fertigen, sondern auch gleich erproben lassen.
Über die grundsätzlichen Anforderungen von Daimler an höchste Genauigkeit, sichere Prozesse, Umweltschutz und Energieeffizienz hinaus, setzte Centerleiter Günter Sprecher klare Ziele für das Projekt: „Die neue Technologiefabrik soll als Vorbild für andere Werkzeugbauten dienen. Und der Center Betriebsmittel nimmt wiederum in der Technologiefabrik eine Schlüsselrolle ein, weil sich hier Werkzeugbau- und Anlagenbaukompetenzen bündeln lassen.“ Für die Umsetzung aller Anforderungen mussten alle Projektbeteiligten neue Wege gehen, weil dabei viele neue Funktionen bezüglich der Maschinen- und Steuerungstechnik zu entwickeln waren.
Success Story
Modern, moderner – Fertigungszelle 3
Ein starkes Team
Die zur Starrag-Gruppe gehörende Dörries Scharmann ist mit der Marke Droop+Rein für große Werkzeugbau-Sondermaschinen mit Wechselfräsköpfen bekannt; sie erhielt den Zuschlag, die Anlage mit entsprechenden Fertigungsmaschinen samt Zubehör auszustatten. Um die Bearbeitungsprozesse komplett simulieren zu können, war von vornherein festgelegt, dass die Maschinen mit CNCs des Typs Sinumerik 840D sl der Siemens AG ausgestattet sein müssen. „Denn diese Steuerung fügt sich nahtlos in die künftig geplante Siemens NX-Prozesskette ein und gehört damit zu den Faktoren, die zur Prozesssicherheit beitragen“, erklärt Ali Fidankök, Projektleiter für Großmaschinen bei Daimler. Um auch die Details in den Pflichtenheften erfüllen zu können, mussten die Maschinenkonstrukteure umfassenden Zugriff auf die Steuerungstechnik bekommen. Insofern war dieser Auftrag für Droop+Rein und Siemens der Startschuss zu einer engen Projektpartnerschaft.
31%
reduzierte Bearbeitungszeit
Die Ausrüstung
Die Anlage, die pünktlich Mitte Juli 2015 in Betrieb genommen wurde, umfasst zwei Portalbearbeitungszentren T 30 55 PT R75 C sowie zwei multifunktionale Hochgeschwindigkeitszentren in Hochgantrybauweise des Typs FOGS 50 68 PT M40 C. Ergänzt mit einem Palettentransportsystem für ein Werkstückgewicht bis zu 40 Tonnen sowie Roboterarbeitsplätzen usw., bearbeiten diese verketteten Großmaschinen die Blechumformwerkzeuge komplett in einer Aufspannung.
Der Bearbeitungsprozess der gegossenen Rohteile startet am Portalbearbeitungszentrum. Diese Maschine bringt für die Schwerzerspanung eine Antriebsleistung von bis zu 75 kW und ein Drehmoment bis 5.500 Nm mit. Sie verfügt über sechs Fräsköpfe mit automatischem Fräskopfwechsler plus ein Werkzeugmagazin auf Basis eines 7-achsigen Roboters. Diese Maschine übernimmt das Grobe – hier wird geschruppt. Die Fein- und Fertigbearbeitung etwa der Wirkflächen, die beim Pressen direkten Kontakt mit den Blechen haben, findet dann auf den Hochgantrymaschinen aus der FOGS-Baureihe statt. Sie sind jeweils mit vier automatisch wechselbaren Fräsköpfen ausgestattet, davon ein Gabelkopf für unterschiedliche Motorfrässpindeln.
Prozess und eingesetzte Technik sind darauf ausgerichtet, dass die Teile mit möglichst wenig oder sogar komplett ohne Nacharbeit zum nächsten Schritt an die Try-Out-Presse gehen können. „Das haben wir umgesetzt und noch dazu gleichzeitig die Bearbeitungszeit des definierten Abnahmeteils von 36 auf 25 Minuten reduziert“, so Ulrich Wiehagen, Vertriebschef und Werkleiter bei Droop+Rein. „Einen wichtigen Beitrag hierzu leisten die Oberflächen-Features der CNC.“ Zum Einsatz kommt dabei das Sinumerik MDynamics Frästechnologiepaket, das mittels verbesserter Bahnführung hohe Bearbeitungsgeschwindigkeiten bei exzellentem und optisch ansprechendem Fräsbild ermöglicht. Unterstützt auch durch neueste mechatronische Motion Control Highlights wie die modellbasierte Vorsteuerung Engineered Motion Control (EMC).
Kinematikvermessung steigert die Prozesssicherheit
Maschinen mit Wechselfräsköpfen verfügen über eine komplexe Kinematik. Besteht zum Beispiel durch einen Temperaturunterschied eine Unsicherheit bezüglich der Maschinengenauigkeit oder ist eine besonders heikle oder hochgenaue Bearbeitung vorgesehen, bringt die automatische Kinematikvermessung der Fräsköpfe die notwendige Prozesssicherheit. Basierend auf dem neuen Messzyklus C9960 aus dem Haus Siemens entwickelte Droop+Rein einen für den Maschinenanwender einfach und sicher zu bedienenden Mess- und Überprüfungszyklus für alle an der Maschine vorhandenen Fräsköpfe. Die Vermessung der Maschinenkinematik erfolgt dabei schnell, hochgenau, ohne Serviceeinsatz und ohne Spezialausrüstung. Mit dem Standardmesstaster der Maschine und einer hochgenauen keramischen Kalibrierkugel ist der Maschinenbediener in der Lage, in weniger als einer Stunde einen Fräskopf reproduzierbar zu qualifizieren. Messtaster einwechseln, Kalibrierkugel aufsetzen, Programm aufrufen, automatisiert ausführen, Ergebnisse kontrollieren, Korrekturwerte ggf. übernehmen – fertig. Für neue Systemapplikationen, wie die Umsetzung dieser erweiterten Kinematikvermessung werden steuerungsintern die sogenannten Kinematischen Ketten vorausgesetzt. Dahinter verbirgt sich eine einheitliche Deklaration des Kinematikaufbaus. Was abstrakt klingt und für Anwender im Hintergrund bleibt, erleichtert die Realisierung weiterer künftiger Funktionalitäten und macht die Maschinen damit zukunftssicher.
Einfaches Handling: Fahren in Werkzeugorientierung
Den Fräser samt Fräskopf in den verschiedensten Betriebssituationen in Werkzeugorientierung zu verfahren ist für Maschinenbediener eine enorme Erleichterung. Für die Umsetzung dieser virtuellen Z-Achse in Werkzeugrichtung wurde erstmalig das neu zur Verfügung stehende steuerungsinterne Tool Coordinate System (TCS) verwendet. Je nach Orientierung des Werkzeuges und des Fräskopfes im Arbeitsraum erfolgt dann beim Verfahren eine Verteilung der jeweiligen Weganteile auf die linearen Geometrieachsen.
Umweltschutz und Energieeffizienz
Die Ausstattung der neuen Fertigungszelle 3 sollte nicht nur für eine einwandfreie und hochproduktive Erfüllung der eigentlichen Bearbeitungsaufgaben sorgen. Umweltschutz und Energieeffizienz waren weitere wichtige Themen in der Projektumsetzung. Die hohe Anforderung der Daimler-Gesamtprojektleitung unter der Führung von Ulrich Funk, den Energieverbrauch um 40 Prozent zu reduzieren, ließ sich durch intensive Projektarbeit aller Beteiligten erreichen. Von der LED-Beleuchtung an der Maschine über die Ausstattung der Maschinen mit hocheffizienten Asynchronmotoren der Energieeffizienzklasse IE3 von Siemens bis zur Blindleistungskompensation wurde an alles gedacht. Letztere ist nicht einfach eine einmalige, fest voreingestellte Blindleistungskompensation herkömmlicher Art. Sie reagiert vielmehr automatisch auf unterschiedliche Lastzustände der Maschine, die sich mit jedem Ein- und Ausschalten von Späneförderer, Aggregaten usw. ergeben. Kompensiert wird die Blindleistung also automatisch, permanent und fast vollständig. Wiehagen: „So ist der Stromverbrauch optimiert und die Energiekosten sind nahezu auf die Wirkleistung begrenzt.“
Modernes Service- und Wartungskonzept unterstützt die Prozesssicherheit
Droop+Rein hat hier zudem ein modernes und zukunftsweisendes Service- und Wartungskonzept umgesetzt. Zustand und Qualität der Werkzeugmaschinen werden basierend auf Analyze MyCondition aus der Sinumerik Integrate Softwaresuite kontinuierlich überwacht, der reibungslose Maschinenbetrieb unterstützt, ungeplante Ausfälle auf ein Minimum begrenzt. Dies ist ein weiteres, nicht unwichtiges Puzzleteil, das die Prozesssicherheit der Anlage unterstützt.
In Nullkommanichts auf drei
Nachdem die Fertigungszelle 3 im Juli in Betrieb gegangen ist, konnte bereits Anfang August 2015 der Drei-Schicht-Betrieb aufgenommen werden. Auf das Ergebnis sind alle Beteiligten stolz. Gemäß des Starrag Group Claims „Engineering precisely what you value“ wurden für die Daimler AG exakt die gestellten Anforderungen in der modernsten Fertigungsanlage für Blechumformwerkzeuge umgesetzt. Der Erfolgsbeweis ist in der Technologiefabrik in der TübA zu besichtigen: als Werkzeugbau-Anlage mit Modellcharakter.